Welche Bedeutung hat der Kindeswille, wenn das Gericht den Eindruck hat, daß das Kind von einem Elternteil, bei dem das Kind lebt, manipuliert wird?

1. Sachverhalt

Die Parteien streiten über das Aufenthaltsbestimmungsrecht der gemeinsamen Tochter. Die beiden Kindeseltern waren bis Oktober 2007 miteinander verheiratet und haben sich während der Dauer ihres Zusammenlebens gemeinsam um ihr Kind gekümmert. Danach  haben sie sich getrennt, woraufhin der Kindesvater später auszog.

Die Trennung war von erheblichen Streitigkeiten der Kindeseltern begleitet. Das Kind wurde im Sommer 2009 eingeschult.Der Kindesvater hat beim Amtsgericht beantragt, ihm das Aufenthaltsbestimmungsrecht für sein Kind allein zu übertragen.
Das Amtsgericht hat nach Anhörung des Kindes, der Kindeseltern und des Jugendamts durch einstweilige Anordnung vorläufig der Kindesmutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen und sich im wesentlichen auf den geäußerten Kindeswunsch berufen.

Hiergegen legte der Kindesvater sofortige Beschwerde ein.

2. Rechtlicher Hintergrund

Gemäß § 1671 BGB ist die elterliche Sorge einem Elternteil allein zu übertragen, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf einen Elternteil dem Wohl des Kindes am besten entspricht.
Dabei besteht kein gesetzliches Regel-Ausnahme-Verhältnis in dem Sinne, dass eine Priorität für die gemeinsame Sorge bestünde und die Übertragung der Alleinsorge auf einen Elternteil nur in Ausnahmefällen in Betracht käme. Eine dem Kindeswohl entsprechende gemeinsame Ausübung der Elternverantwortung setzt daher ein Mindestmaß an Übereinstimmung, in wesentlichen Bereichen der elterlichen Sorge und insgesamt eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern voraus.

3. Urteil des OLG Brandenburg vom 22.10.2009 (Az.: 9 WF 261/09)

Das OLG Brandenburg hob die Entscheidung des Amtsgerichts auf und übertrug dem Kindesvater vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrechts

„Die Beurteilung des Kindeswohls hat sich im Rahmen einer – auch vorläufigen – Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht an den Grundsätzen der Kontinuität, der Förderung, der Bindung des Kindes an seine Eltern und sonstige Bezugspersonen sowie am geäußerten Kindeswillen zu orientieren.“

Dies gilt auch für den Teilbereich des Aufenthaltsbestimmungsrechts.
Das OLG Brandenburg ist der Ansicht, dass aus der Anhörung des Kindes nicht auf den hierdurch entnommenen Willen des Kindes zurückgegriffen werden kann. Zumindest reiche die Anhörung alleine nicht aus. Dazu führt das Gericht aus:

Es bestehen erhebliche Zweifel daran, dass der Wille des Kindes tatsächlich dahin geht, überwiegend bei ihrer Mutter leben zu wollen. Zweifel ergeben sich schon daraus, dass das Kind bei ihrer Anhörung erst sechs Jahre alt gewesen ist. Der Wille eines Kindes dieses Alters, das zudem noch durch das Verhalten der Eltern in einen massiven Loyalitätskonflikt gestürzt worden ist, den die Trennung der Eltern für ein an beide Eltern gebundenes Kind notwendig darstellt, ist grundsätzlich kaum als zuverlässige Entscheidungsgrundlage heranzuziehen. Die Berücksichtigung des Kindeswillens setzt zunächst voraus, dass das Kind nach Alter und Reife zu einer Willensbildung im natürlichen Sinn in der Lage ist.

Der Kindeswille ist zum einen der verbale Ausdruck für relativ stärkste Personenbindung, zum anderen von einem gewissen Alter ab ein Akt der Selbstbestimmung des Kindes, der verfassungsrechtlich geschützt ist (Art. 1 Abs. 1; 2 Abs. 1 GG). Allerdings tritt der Gesichtspunkt der Selbstbestimmung auf Grund des Kindesalters in den Hintergrund, wenn das Kind noch nicht in der Lage ist, einen autonomen Willen zu bilden.“

Das Gericht stellt vielmehr fest, das das Kind den deutlichen Wunsch geäußert habe, den Vater häufiger sehen zu dürfen und eindeutig erklärt, gleich viel Zeit mit beiden Eltern verbringen zu wollen. Der hiervon abweichend geäußerte Wunsch, vorrangig bei der Mutter leben zu wollen, kann jedenfalls nicht als unbeeinflusster und autonomer Wille festgestellt werden.

„Maßgeblich für die vorläufige Entscheidung ist das Förderungsprinzip unter besonderer Beachtung der Bindungstoleranz. Das sogenannte Förderungsprinzip drückt die Eignung der Eltern zur Übernahme der für das Kindeswohl wichtigen Erziehungs- und Betreuungsaufgabe aus. Es handelt sich insoweit bei der im einstweiligen Anordnungsverfahren zu treffenden Entscheidung um eine Prognose auf Grund summarischer Prüfung des bereits erkennbaren Sachverhalts, wobei insbesondere auf die Einstellung der Eltern zum Kind und den Grad ihrer inneren Bereitschaft, Verantwortung für das Kind zu tragen, ankommt.
Besondere Bedeutung hat dabei , ob der jeweilige Elternteil vorbehaltlos bereit ist, den persönlichen Umgang des Kindes mit dem jeweils anderen Elternteil nicht nur zuzulassen, sondern diesen auch aktiv zu unterstützen.“

Das OLG Brandenburg ist der Ansicht, dass es unter Berücksichtigung des Gesamtverhaltens der Kindesmutter nicht gelinge, sich in ihrem eigenen Verhalten zu reflektieren und eigene Anteile an dem elterlichen Konflikt zu erkennen. Ihr gelingt es nicht, sich in die Erlebniswelt des Kindes hineinzuversetzen und angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes zu reagieren und im Hinblick auf den Umgang mit dem Kindesvater hinreichend einzugehen.
Dies könne auf längerer Sicht zu einer Gefährdung der seelischen Gesundheit des Kindes führen.
Es war deshalb geboten das Aufenthaltsbestimmungsrecht vorläufig auf den Kindesvater allein zu übertragen.

4. Fazit

Nur selten sehen Gerichte ein, daß Kinder zum einen massiven Loyalitätskonflikt haben und zum anderen, daß die Kinder häufig durch den Elternteil beeinflußt werden, bei dem das Kind lebt. Es ist daher erfreulich, daß das Gericht hier differenziert geurteilt hat.

5. Quelle
Die Entscheidung kann unter http://www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de/jportal/?quelle=jlink&docid=JURE090049671&psml=sammlung.psml&max=true&bs=10
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Klaus Wille
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